H.-L. Kieser: Talât Pascha

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Title
Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie


Author(s)
Kieser, Hans-Lukas
Published
Zürich 2021: Chronos Verlag
Extent
439 S.
by
Hacik Rafi Gazer, Professur für Geschichte und Theologie des christlichen Ostens, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Die umfangreiche politische Biographie über Talât Pascha von Hans-Lukas Kieser besteht aus sechs Hauptteilen und wird mit einem sehr programmatischen Epilog abgeschlossen. Das amerikanische Original dieses Werkes von 2018 ist in der deutschen Übersetzung revidiert und ergänzt worden. Kieser hat dabei eine Vielzahl von Primärquellen u.a. aus armenischen, osmanischen, türkischen, deutschen, schweizerischen, amerikanischen, österreichischen, britischen und israelischen Archiven in ihrer jeweiligen Sprache herangezogen. Darüber hinaus sind auch zahlreiche Memoiren, insbesondere armenische, türkische und osmanische, von ihm sehr detailliert ausgewertet worden.
Mehmed Talât wurde 1874 in Edirne geboren, also in der Zeit des Niedergangs des osmanischen Staates, der sich seit dem späten 18. Jh. in einem instabilen Zustand befand. Bei der ungewissen osmanischen Zukunft hatten die europäischen Mächte unterschiedliche Pläne: Neben dem expandierenden russischen Reich bevorzugten die europäischen Mächte grundsätzlich die Beibehaltung des status quo. Seit der Mitte des 19. Jh. mangelte es in den Ostprovinzen des Osmanischen Reiches an stabiler Sicherheit der Bürger und an einer zuverlässigen Rechtsordnung, was wiederholt zu regionalen Unruhen führte. In der internationalen Diplomatie wurden diese Problemlagen der spätosmanischen Zeit mit der sogenannten «Orientalischen Frage» bezeichnet. Teil davon war auch die «Armenische Frage». Mit der Klärung der beiden «Fragen» hing auch die Zukunft des Osmanischen Reiches und die Zukunft des Nahen Ostens zusammen. Ein Haupthindernis bei der Beantwortung dieser «Fragen» war die Hauptforderung der nichtmuslimischen Bevölkerung nach voller Gleichberechtigung mit den Muslimen. Die Lage der nichtmuslimischen Bevölkerung verschlechterte sich in Ostanatolien und Kleinasien kontinuierlich. Bis dahin versprochene Reformen für diese Bevölkerungsgruppen wurden nicht umgesetzt. Vielmehr beantwortete der Osmanische Staat, an dessen Spitze Großwesir Mehmed Talât stand, vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg die «Fragen» mit dem Genozid an den Armenier. So konnte Talât Pascha im September 1915 an die deutsche Diplomatie melden «Die armenische Frage existiert nicht mehr.» (S. 239). Talât, der imperiale Umstürzler an der Spitze des Osmanischen Reiches, wurde zum Pionier des Genozids in Europa des 20. Jhs.
Kieser sieht in der Person Talâts einen echten Pionier, denn «[e]r war es, der dem 20. Jahrhundert die ersten konkreten Erfahrungen mit einer Einparteienregierung und einem imperialen komitecilik bescherte, das heisst mit dem politischen Stil eines revolutionären Komitees an der Spitze eines Grossreichs. Er war der Wegbreiter für eine rücksichtlos gewaltbreite Bevölkerungspolitik verbunden mit einem radikalen, ethnoreligiös begründeten Nationalismus; und er wusste sehr genau, wie sich der Dschihad als Werkzeug zur Verfolgung dieser Ziele instrumentalisieren liess» (S. 43).
Nach Kieser bildeten die seit dem späten 18. Jh. sich abzeichnenden sukzessiven Verluste an Territorien, Macht und Selbstbestimmung den Hintergrund für Talâts verheerende und zerstörerische Politik. Seit dem späten Mittelalter war die osmanische Gesellschaft unter den seit dem 16. Jh. stets sunnitisch-muslimischen Repräsentanten des Staates multiethnisch und damit von verschiedenen Kulturen, Sprachen, Religionen geprägt. Ab dem 18. Jh. durchlief das hierarchisch strukturierte osmanische Gesellschaftsgefüge in der Konfrontation mit westlichen Ideen von Gleichheit und Nationalismus eine tiefe Krise. Die osmanischen Reformer hatten mit der Tanzimatreformen seit Mitte des 19. Jhs. das Prinzip einer egalitären osmanischen Pluralität der unterschiedlichen Volksgruppen eingeführt. Nach der Unabhängigkeit Griechenlands, Serbiens, Rumäniens und später Bulgariens und weiteren Verlusten auf dem Balkan verlor das Verfassungsprinzip eines egalitären Pluralismus für die meisten seine Plausibilität. Talâts sah, so Kieser, die Alternative in einer homogenen türkisch-islamischen «Einheit» ohne Einbezug der Christen. Es sollte die türkisch-islamische Oberhoheit abgesichert und Talâts Kernstück einer imperialen Herrschaft bewahrt werden. Es sei also, so Kieser, Talât ein «beispielhafter radikaler Nationalist und Revolutionär mit imperialer Schlagseite» (S. 48). Talât ist derjenige, «der das Zeitalter der Extreme eröffnet und einem Europa der Diktatoren den Weg bereitet» (S. 47).
In seiner Studie arbeitet Kieser die «relevante[n] historische[n] Kontexte heraus, die Talâts Lebensgeschichte prägen, und führt in Umtriebe und parteiliche Kämpfe ein, sofern diese sich auf breitere Kontexte auswirken» (S. 50). Dagegen, so Kieser, werden «enzyklopädische Detailangaben, Anekdoten oder breite Erörterungen interner CUP-Angelegenheit bewusst beiseitegelassen» (S. 50).
Kiesers Hauptaugenmerk liegt auf der letzten, am wenigsten erforschten Dekade der Aktivitäten von Talât und des CPU. Diese beginnt mit dem Jahr 1912, als Talat zur Nummer eins des CUP aufstieg.
Die Werke der Zerstörung und Ausrottung unter Talâts Führung erhalten in der Darstellung Kiesers den ihnen gebührenden Raum. Kieser schreibt: Die «Dokumente, die uns Talât hinterlassen hat, einschließlich seiner Memoiren, lassen keinen Zweifel daran, dass die Vernichtung der Armenier im Zentrum der politischen Biographie dieses jungtürkischen animal politique par exellence steht» (S. 51).
Nun zeichnet Kieser den Werdegang Talâts nach, der 1891 auf der Poststelle in Edirne als Hilfskraft tätig war und zugleich als Türkischlehrer an der Schule der Alliance israélite unterrichtete. Seit Mitte der 1890er Jahren gehörte er dem 1889 gegründeten «Komitee für Einheit und Fortschritt» (Comité union et progrès, CUP) an. Er wurde 1896 verhaftet und lebte nach der Entlassung ab 1898 als Postangestellter in Saloniki. Hier knüpfte er zahlreiche Kontakte mit patriotischen Dissidenten, mit denen er 1906 das Halbmond Komitee (Hilâl Cemiyeti) gründete. Nach wenigen Tagen nannte sich dieses Komitee «Osmanisches Freiheitskomitee» (Osmanli Hürriyet Cemiyeti). Ab 1907 schlossen sich die Mitglieder des «Komitees für Einheit und Fortschritt» (Comité union et progrès, CUP) und dem «Osmanischen Freiheitskomitee» (Osmanli Hürriyet Cemiyeti) zusammen und bezeichneten sich ab 1908 als CUP. Das Komitee für Einheit und Fortschritt CUP war und blieb von 1908 bis 1918 die stärkste politische Organisation der jungtürkischen Bewegung.
Talât nahm bei der Reorganisation der jungtürkischen Bewegung durch die Aktivisten sehr rasch eine bedeutende Stellung ein. Die Mitglieder arbeiteten nach der Methode «Komitadschitum/Komitadschilik». Die Mitglieder des Zentralkomitees agierten über vertrauliche Netzwerke von Verschwörern, unter der strengen Kontrolle eines eingeschworenen «Heiligen Komitees». Davon wird der Begriff Komitadschi abgeleitet. Es war durchdrungen von einem eisernen Willen, dem osmanischen Reich wieder zu alter Macht zu verhelfen, es gleichzeitig zu modernisieren, zu zentralisieren, und zu vereinheitlichen. Als ideologische Basis diente dem Gremium eine Mischung aus Türkismus, Islamismus und Sozialdarwinismus. Kieser zeigt, dass in dem Profil des Komitees nach 1913 vor allem der Ethnonationalismus dominierend wurde. Seit Ende 1908 beherrschte das CUP das Parlament. Bereits im April 1909 schickte das Parlament Abdulhamid nach Saloniki ins Exil. Im August 1909 übernahm Talât das Amt des Innenministers. In den folgenden Jahren wurde, vor allem nach den Gebietsverlusten in den Balkankriegen der Jahre 1912/13, landesweit das Einparteienregime anstelle des Verfassungsstaates durchgesetzt. Dabei verbreitete sich eine mit antichristlichem Ressentiment aufgeladene Form türkischem Nationalismus. Talât wird in diesen Jahren von den Ideen Zia Gökalps, der als spiritus rector des modernen Türkismus gilt, sehr stark geprägt. Demnach bedeutet Osmanentum nicht mehr religionsübergreifende osmanische Gemeinschaft, sondern nur noch die Gemeinschaft der sunnitisch-osmanischen Muslime im neuen Sinne des Türkismus. Talâts Bemühungen um einen nationalen Neuaufbau bestanden zunächst in nichts anderem als in Zerstörung und Plünderung. Das beinhaltete die Vertreibung der Griechen und der Armenier und den widerrechtlichen Transfer von deren Eigentumsbestand. In Kleinasien sollte sich eine ausschließlich türkisch-muslimische Einheitsbevölkerung etablieren.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatten oder wollten deutsche Behördenmitglieder nicht begreifen und nicht verstehen, dass Talât der eigentliche Architekt des Völkermords war. Vielmehr boten sie ihm Asyl an. Im November 1918 floh Talât nach Berlin und wurde dort im März 1921 ermordet. Seine sterblichen Überreste wurden in einer gemeinsamen Aktion der Regierungen von Adolf Hitler und Ismet Inönü am 25. Februar 1943 in die Türkei überführt, vier Jahre und vier Monate nach Kemal Atatürks Tod.
Diese Biographie Talâts ist nicht nur eine Studie für Gelehrte, sondern soll mit Blick in die Zukunft auch dem Zweck der Aufklärung dienen. Ihr Blick in historischen Abgründe ist nicht Selbstzweck, sondern Anstrengung und Teil eines aktuellen, selbstkritischen und hoffentlich ertragreichen Lernprozesses.

Zitierweise:
Rafi Gazer, Hacik: Rezension zu: Kieser, Hans-Lukas: Talât Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Beat Rüegger, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 116, 2022, S. 446-449. Online: https://doi.org/10.24894/2673-3641.00127.

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